28. Juli 2021 / Aus aller Welt

Alle für alle - Wie sich ein Dorf aus dem Schlamm kämpft

Tagelang waren die Einwohner von Mayschoß an der Ahr nach der Flut von der Außenwelt abgeschnitten. Sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.

Die von der Flutwelle fortgerissene Dorfstraße in Mayschoß. Zahlreiche Häuser in dem Ort wurden komplett zerstört oder stark beschädigt.
von Birgit Reichert (Text) und Thomas Frey (Foto), dpa

Die Kirche ist Apotheke, Supermarkt und Essensausgabe. Der Krisenstab sitzt in der alten Schule, die Feuerwehr hat sich im Kindergarten eingerichtet.

Nach wie vor herrscht Ausnahmezustand in Mayschoß an der Ahr - einem Ort, der bei der Hochwasserkatastrophe vor zwei Wochen besonders schlimm verwüstet worden war.

Zerstörung und Leid haben die gut 900 Einwohner zusammengeschweißt - auch weil sie zunächst tagelang quasi von der Außenwelt abgeschnitten waren. «Wir haben einen sehr guten Zusammenhalt gefunden. Es blieb uns ja nichts anderes übrig», sagt Rainer Claesges, Mitarbeiter im Stab Mayschoß und im Ortsgemeinderat. «Wir mussten Kräfte kanalisieren.»

Gleich am Tag nach der Flut wurde ein eigener Krisenstab gegründet. «Wir haben geschaut: Wer hat welche Stärke? Wer kann was beitragen?», so Claesges. Bis heute kommt der Stab jeden Abend zusammen: «Da wird der Tag besprochen und das, was anfällt am nächsten Tag.»

In der Kirche türmen sich Kleidung, Hygiene-Artikel, Gummistiefel - aber auch Spielsachen. «Die Leute dürfen kommen und sich nehmen. Wir sind gut versorgt», sagt eine Helferin. Es breche ihr immer wieder das Herz, wenn Einwohner vorbei kämen, die in der Flutnacht alles verloren hätten. «Was uns alle am Leben hält: Wir haben eine super Dorfgemeinschaft. Jeder hilft jedem.» Denn: «Wenn man auch nicht das Haus verloren hat, wir haben alle unsere Heimat verloren.»

Wehrleiter Berthold Ulrich hat gleich in der Katastrophennacht angepackt. Mit einem Megafon ging er durch die Straßen, um Menschen zu warnen und aus den Häusern zu holen. Am Tag danach hätten dann Hubschrauber die Menschen von den Dächern gerettet. «Das waren teilweise dramatische Szenen. Wir sind halt ein kleines Dorf. Jeder kennt jeden.» Feuerwehr aus Ludwigshafen, Speyer und Neustadt sei vor Ort gewesen.

Am Tag eins nach der Flut hätten alle im Dorf geholfen, Anwohner zu versorgen. «Krankenschwestern kamen zur Verletzten-Sammelstelle», sagt Claesges. Decken wurden geholt, Getränke, Essen. Denn irgendwie sei ja jeder im Ort betroffen, auch wenn er kein Wasser im Haus gehabt habe. Später wurden die Einwohner dann über Helikopter aus der Luft versorgt.

Immer wieder neue Aufgaben: Fleisch von zwei Metzgereien im Ort musste entsorgt werden, ebenso die Inhalte von Tiefkühltruhen der Bürger. «Da waren wir aber relativ fix. Wir haben oben auf dem Berg ein großes Loch gemacht - und da alles wegen der Seuchengefahr entfernt.» Dann musste Wasser mit Traktoren und Anhängern herangefahren werden - denn Wasser und Strom gab es nicht.

«Es war klar, dass wir nicht so schnell Hilfe kriegen würden», sagt der stellvertretende Bürgermeister Hartwig Baltes. Im Ort gab es auch einen leitenden Notarzt und einen früheren Polizeibeamten. «Wir haben Gruppen gebildet und organisiert», erzählt er. «Das würde jeder genauso machen.»

Bei einem Besuch am Mittwoch in Mayschoß zeigte sich die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer beeindruckt von dem, was der Ort organisiert habe. «Das ist wirklich einfach nur bewundernswert, mit wie viel Kraft aber auch Professionalität die unterschiedlichen Fähigkeiten eingesetzt worden sind, um mit dieser schrecklichen Katastrophe und Krise umzugehen», sagte die SPD-Politikerin.

Bei einem Rundgang machte sich Dreyer ein Bild von der Verwüstung. «Es geht mir vor allem darum, den Menschen zu zeigen, dass wir wirklich auch langfristig an ihrer Seite stehen. Dass sie die Sicherheit mitnehmen, dass wir sie als Land nicht vergessen, sondern sie tatkräftig unterstützen wollen», sagte sie, bevor sie in die Kirche ging.

Die Kirche sei zum Mittelpunkt des Lebens geworden, sagt Claesges. «Das ist unsere Lagerstätte für alles.» Und «einfach nur ein Ort für eine Zusammenkunft, um das Erlebte zu verarbeiten». Und um ein Bier gemeinsam zu trinken. «Ich glaube, unsere Kirche war in den letzten Jahren nicht mehr so gefüllt wie in den letzten Tagen.»

Zwei Drittel des Dorfes sind noch intakt, das verheerende Unwetter vom 14. Juli hat nach Schätzungen aber rund 50 Häuser in dem Ort geflutet und die Hauptverkehrsstraße entlang der Ahr zerstört. Zwei Waldwege gab es noch aus dem Ort heraus, aber nur für geländegängige Fahrzeuge, erzählt Ulrich. Auch hier hat wieder jemand aus dem Ort eine Lösung gehabt: Ein Bauunternehmer baute innerhalb von einer knappen Woche eine Teerstraße durch den Wald.

«Wenn man mal überlegt, wie lange man normalerweise in Rheinland-Pfalz braucht, bis zwei Quadratmeter Pflaster irgendwo liegen, genehmigungstechnisch, und wie das jetzt funktioniert hat. Aber das ist jetzt auch die Lebensader von Mayschoß gewesen», sagt Wehrführer Ulrich. Der Geist im Dorf sei «auch sonst schon gut» gewesen. «Aber das Ganze hat das Dorf noch einmal mehr zusammengeschweißt.»

Und das Helfen im Dorf geht weiter: Die Feuerwehr unterstützt sieben Kameraden, die vom Hochwasser betroffen waren. Gruppen aus dem Ort helfen Winzern der dortigen Genossenschaft, dass deren Weinberge «irgendwie am Leben gehalten werden», sagt Ulrich. Damit nicht noch zusätzlicher wirtschaftlicher Schaden für die Betriebe entsteht. «Eigentlich ist jetzt Hoch-Zeit im Weinberg.»

Inzwischen ist Mayschoß wieder an die Hauptverkehrsstraße angeschlossen, auch Einsatzkräfte mit großem Gerät und Baumaschinen sind da. «Die Federführung im Krisenstab haben wir immer noch in der Hand», sagt Claesges.

Bei der Flut kamen an der Ahr mindestens 134 Menschen ums Leben. In den vergangenen 24 Stunden seien zwei weitere Menschen tot geborgen worden, sagte Florian Stadtfeld vom Polizeipräsidium Koblenz am Mittwoch.

«Bisher haben wir nur funktioniert», sagt Claesges. «Jeden Tag denkt man wieder: Es ist alles nur ein schlechter Traum. Und dann stehst du auf und guckst in die Weinberge, und da ist halt die Idylle. Und auf der anderen Seite ist die Apokalypse.» Aber auch hier bleibe nichts anderes übrig: «Da ist unsere Heimat. Die bauen wir wieder auf.»

Eine Helferin in der Kirche lobt, wie toll die Hilfsbereitschaft auch von außen sei. «Wir haben aber eine Bitte: Vergesst uns nicht. Auch auf lange Sicht. Das hier ist erst die Stunde Null.»


Bildnachweis: © Boris Roessler/dpa
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