8. Februar 2023 / Aus aller Welt

«Stimmen unter den Trümmern» - Kampf gegen die Zeit

Kälte, Regen, Schnee und große Zerstörung - die Retter in der Türkei und Syrien kämpfen mit widrigen Bedingungen. Ihnen läuft die Zeit davon. Die Menschen sind verzweifelt - und wütend.

Drohnenaufnahme nach der Katastrophe: Etliche Gebäude im Zentrum von Hatay liegen in Trümmern.
von Cindy Riechau, Weedah Hamzah, Mirjam Schmitt, Anne Pollmann und Linda Say, dpa

Selbst das Gebäude der Retter ist nur noch ein Schutthaufen. Der Sitz der Katastrophenschutzbehörde Afad im südtürkischen Hatay ist eingestürzt und zum Sinnbild für die große Zerstörung im Land geworden. Taschen für Erste Hilfe ragen aus den Trümmern, wie auf Bildern in den Medien zu sehen ist. Nach einem der schwersten Erdbeben der letzten Jahrzehnte in der Türkei und Syrien wird das Ausmaß der Katastrophe immer deutlicher: Gebäude sind eingestürzt, mehr als 8100 Menschen gestorben - 13,5 Millionen Menschen sind allein in der Türkei von der Katastrophe betroffen.

Die Menschen sind am Dienstag verzweifelt, aus abgelegenen Regionen kommen Rufe nach mehr Hilfe, teilweise fehlt Strom und Wasser, Zufahrtswege sind zerstört oder verschneit, es ist bitterkalt. In den sozialen Medien teilen Menschen verzweifelt die mutmaßlichen Standorte ihrer Liebsten. In der Türkei scheint jeder jemanden zu kennen, der unter den Trümmern begraben ist. Mehr als 50.000 Retter sind im Einsatz - aber ihnen läuft die Zeit davon.

Bei vielen wächst aber auch die Wut: Wenn noch nicht mal die Gebäude der Helfer sicher sind, welche sind es dann? Fragen werden in der Türkei laut, wie es zu der großen Zerstörung kommen konnte - und ob die Regierung ausreichend vorbereitet war.

Geophysiker: Großes Beben überfällig

Für Experten war das Beben zwischen der Anatolischen und der Arabischen Erdplatte keine Überraschung. An dieser sogenannte Ostanatolische Verwerfungszone sei ein großes Beben überfällig gewesen, sagt Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam. «Wir haben gerufen, wir haben geschrien und mit den örtlichen Behörden gesprochen», sagt der türkische Geowissenschaftler Naci Görür lokalen Medien. Niemand habe auf die Wissenschaftler gehört. Als er von dem Beben erfahren habe, habe er erst mal geweint.

Die Behörden hätten versäumt, alte Häuser erdbebensicher zu sanieren, kritisiert Nusret Suna von der Istanbuler Bauingenieurskammer. Selbst Gebäude, die nach dem Jahr 1999 - also nach dem verheerenden Beben in der Nähe Istanbuls mit mehr als 17.000 Toten - gebaut wurden, seien nicht sicher. Architekten, Bauunternehmen und andere für Verantwortliche ignorierten «ethische Prinzipien und moralische Werte» und agierten oft nach «Profitgier».

Die Lage in den Erdbebengebieten ist weiterhin dramatisch. Im südtürkischen Iskenderun sind die Menschen aufgebracht. «Wo ist unser Präsident?» ruft eine Frau, die um ihre unter den Trümmern begrabene Verwandte bangt, einem türkischen Fernsehteam zu.

«Regiert man so ein Land?»

Im Göskun in der Provinz Kahramanmaras harrt ein Ehepaar mit ihrem Sohn in ihrer Schneiderei aus. Helfer haben sie noch nicht erreicht, sagen sie der Deutschen Presse-Agentur. Seit dem Beben ernähren sie sich nur von salzigen Keksen und einem Fladen Weißbrot. Ihr Haus ist völlig zerstört, sie können es nie wieder betreten, das sei klar.

«In diesem Land hat niemand irgendwelche Rechte», das werde in der Katastrophe einmal mehr deutlich, sagt der Vater. Keiner kümmere sich um die Armen. «Regiert man so ein Land?», schimpft der Vater und meint den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Seinen Namen will er darum nicht in diesem Text wissen.

In Adiyaman, nahe der syrischen Grenze, fehle es an allem, sagt der Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP, Kemal Bülbül. Anwohner hörten Stimmen unter den Trümmern, könnten die Verschütteten aber nicht erreichen. Es fehle an schwerem Gerät, mit dem die Trümmer angehoben werden könnten. Die Supermärkte seien geschlossen, es habe Plünderungen gegeben, erzählt der Politiker.

«Die Situation ist wirklich katastrophal», sagt Ahmad al-Tawil, der in die Stadt Harim nahe der türkischen Grenze gereist ist, um dort seinen Cousin zu finden, der seit dem Erdbeben vermisst wird.

Ausmaß der Zerstörung erschüttert Retter

Den Rettern in Syrien mache wie auch in der Türkei neben den Temperaturen unter dem Gefrierpunkt auch das Ausmaß der Zerstörung zu schaffen, heißt es von den Weißhelmen. Ihnen fehle zudem Ausrüstung. Die Rettungsorganisation, die in den von Rebellen gehaltenen Gebieten Syriens aktiv ist, vermutet, dass noch immer Hunderte in den Trümmern eingeschlossen sind.

Der Tag der Beben sei der schwerste Tag in seinem Leben gewesen, sagt Ahmed Hanura. «Ich habe all die Tage des Krieges in der Stadt Aleppo miterlebt», so der 52-Jährige. Die Stadt wurde bei heftigen Kämpfen stark zerstört und gilt als Sinnbild des Bürgerkrieges. Am Montag aber sei Hanuras Angst noch größer gewesen als damals. Viele seiner Nachbarn seien in ihren eingestürzten Häusern umgekommen.

«Wir hören Stimmen unter den Trümmern, aber können den Menschen nicht helfen», sagt ein Mitarbeiter des Zivilschutzes, dessen Team in der Nähe von Aleppo im Einsatz ist. «Wir sind derartige Zerstörungen nicht gewohnt.»

Experten erwarten auch in Zukunft Erdbeben in der Türkei - auch in der Nähe der Millionenstadt Istanbul. Aber die Potsdamer Experten gingen nicht davon, dass dieses Erdbeben aufgrund der großen Entfernung die Region Istanbul beeinflusse. Bauingenieur Suna mahnt seit Jahren, dass auch dort die Gebäude dringend saniert werden müssten. Die aktuelle Lage lasse erahnen wie katastrophal es ausgehen könne, wenn ein Beben ähnlicher Stärke die Region treffe. «Ich wage es nicht, das auszusprechen. Aber bei so einem Beben wird keiner von uns in der Lage sein, sich zu rühren. Keiner.»


Bildnachweis: © Tunahan Turhan/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa
Copyright 2023, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten

Meistgelesene Artikel

Einkäufer/ Disponent (m/w/d) gesucht
Job der Woche

Starte Deine Karriere bei Sudbrock in Rietberg

weiterlesen...
Drei spannende Jobangebote in Rheda-Wiedenbrück
Job der Woche

Starte noch heute Deine Karriere bei der Keisinger Gruppe

weiterlesen...

Neueste Artikel

Mongolei: Millionen Herdentiere sterben im Extremwinter
Aus aller Welt

«Dzud» nennen die Mongolen die Schnee- und Eiskatastrophen, die das Land in den Wintermonaten immer wieder heimsuchen. In diesem Jahr trifft es die Tierherden besonders hart.

weiterlesen...
Aufsehen in China um Tötung eines Teenagers
Aus aller Welt

In einem verlassenen Gewächshaus taucht die Leiche eines Jungen auf. Schnell macht die Polizei Verdächtige aus. Doch viele Einzelheiten in dem Fall sind noch unklar.

weiterlesen...

Weitere Artikel derselben Kategorie

Mongolei: Millionen Herdentiere sterben im Extremwinter
Aus aller Welt

«Dzud» nennen die Mongolen die Schnee- und Eiskatastrophen, die das Land in den Wintermonaten immer wieder heimsuchen. In diesem Jahr trifft es die Tierherden besonders hart.

weiterlesen...
Aufsehen in China um Tötung eines Teenagers
Aus aller Welt

In einem verlassenen Gewächshaus taucht die Leiche eines Jungen auf. Schnell macht die Polizei Verdächtige aus. Doch viele Einzelheiten in dem Fall sind noch unklar.

weiterlesen...
ANZEIGE – Premiumpartner